
Podiumsdiskussion
Dr. habil. Landry Charrier, Associate Fellow des CASSIS
Prof. Dr. Ulrich Schlie, Historiker und seit 2020 Henry Kissinger Professor für Sicherheits- und Strategieforschung
General a.D. Jörg Vollmer, Chief Advisor Military Affairs am Fraunhofer-Institut für Kommunikation, Informationsverarbeitung und Ergonomie (FKIE)
Weckruf für Deutschland und Europa
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Weckruf für Deutschland und Europa
Podiumsdiskussion mit Dr. habil. Landry Charrier, Prof. Dr. Ulrich Schlie und
General a.D. Ludwig Vollmer │ Beitrag: Astrid Wiese
Der Weckruf ist erfolgt und Ignorieren keine Option!
So könnte zusammenfassend die Quintessenz des Abends lauten, zu dem der Club drei renommierte Experten eingeladen hatte. Es begann General a.D. Ludwig Vollmer mit einer Analyse der Sicherheitslage, dann folgte Dr. habil. Landry Charrier mit der deutsch-französischen Perspektive und Prof. Dr. Ulrich Schlie mit transatlantischem Bezug.
Es geht, so Prof. Mayer in seiner Anmoderation darum, „den Krieg zu denken, um ihn nicht führen zu müssen“. Es scheint, dass die Friedensdividende aufgebraucht ist und wir jetzt vermutlich nur in einem Zustand des bewaffneten Friedens in der neuen multipolaren Ordnung werden bestehen können.
General Vollmer macht die vielfältigen Veränderungen der Sicherheitslage in Deutschland seit 1949 an vier Phasen fest. Die erste währte von der Gründung der Bundesrepublik 1949 bis zum Fall der Berliner Mauer 1989. Die zweite vom Ende des Kalten Krieges bis zum 11. September 2001. Die dritte endete mit der Annexion der Krim 2014, und die vierte begann am 24.2.22, als Russland die Ukraine überfiel, und dauert bis heute.
Geopolitische Verwerfungen, Terroranschläge, Flüchtlingsströme und hybride Bedrohungen der westlichen Demokratien durch russische Akteure haben an Intensität und Häufigkeit zugenommen. Beschädigte Unterseekabel, Cyberangriffe, großflächige Störungen von GPS -Signalen in der Ostsee und ausländische Drohnen über deutschen Kasernen sind nur einige wenige Beispiele.
Bemerkenswert ist, dass es von 1990 bis 2023 keinen dezidierten europäischen Verteidigungsplan gab. Die NATO-Gipfel 2014 in Wales und 2016 in Warschau beschlossen zwar eine deutliche Verstärkung der Verteidigungsbereitschaft, insbesondere für die östlichen Bündnisstaaten, z.B. den RAP (Readiness Action Plan) und eine Erhöhung der Verteidigungsausgaben mittelfristig auf 2 Prozent des BIP. Jedoch müssen sie sie jetzt im Rahmen einer aktiven Vorwärtsverteidigung deutlich nachgebessert werden: Im Raum steht das Jahr 2029, in welchem, nach Ansicht diverser Experten, Russland den Artikel 5 des NATO-Vertrages „antesten“ könnte. Darauf muss eine überzeugende Antwort gegeben werden, andernfalls würde das Bündnis obsolet.
Der Ukraine Krieg läuft für Putin ganz und gar nicht nach Plan. Er hat die Verteidigungsbereitschaft, – fähigkeit und Resilienz der Ukraine erheblich unterschätzt.
Er führt einen Abnutzungskrieg, den er aufgrund von unterlaufenen Sanktionen und vielen Soldaten, die übrigens eher selten aus Sankt Petersburg und Moskau kommen, noch eine ganze Zeit durchhalten kann.
Auch ein Wechsel des Regimes ist unwahrscheinlich, da Putin mittlerweile eine homogene Unterstützergruppe um sich versammelt hat. Die bisherige Containment Strategie wird weitergeführt.
Die Frage, wie der Ukraine Krieg in Würde beendet werden kann, ist weiterhin offen. Die neue Bundesregierung hat jetzt ein Sondervermögen von 3,5 Prozent für Verteidigung und 1,5 Prozent für Infrastruktur beschlossen um „kriegstüchtig“, so Boris Pistorius, zu werden.
Finanzielle Mittel und technische Überlegenheit sind vorhanden, unser Problem aber ist die Demographie: Nach einem Höchststand von 500.000 Soldaten um 1990, wurde die Truppenstärke kontinuierlich reduziert, insbesondere durch die Aussetzung der Wehrpflicht 2011 und die Umstrukturierung zur Freiwilligenarmee.
Mittlerweile beträgt die Zahl der Soldaten nur noch circa 180.000.
Das Verteidigungsministerium plant einen Aufwuchs auf 203.000 bis 2031. Boris Pistorius fordert noch weitere 60.000 Soldaten. Dies wird ohne eine Wehrpflicht nicht gelingen und müsste von der Politik endlich glasklar kommuniziert werden. Es fehlt also nicht nur an Personal, Material und entsprechender Administration, sondern auch an intakter Infrastruktur. Ein belastbares Straßen- und Brückennetz ist auch deshalb von erheblicher Bedeutung, da Deutschland im Krisenfall aufgrund seiner geografischen Lage als Drehscheibe für die Verlegung von Truppen, Schwerlastern, Panzern etc. fungieren würde. Die militärischen Bewegungen von West nach Ost werden sich im Verteidigungsfall erheblichen Flüchtlingsströmen aus der Gegenrichtung gegenübersehen.
Hinzu kommt, dass die Ressourcen nur einmal vorhanden sein werden, denn im Gegensatz zu der Ukraine sind alle NATO-Staaten von einem eventuellen Angriff auf ein Mitgliedsland betroffen.
Dr. habil Charrier eröffnete seinen Vortrag mit einem Zitat aus Herbert Lüthys Buch „Frankreichs Uhren gehen anders“ (1954), einer wichtigen Studie zur französischen Nachkriegsgesellschaft. Diese Uhren gehen nicht falsch, sondern anders, und die Synchronisation mit den Gesellschaften der Nachbarländer ist oft schwierig. Das zeigt sich u.a. in den wiederholten Bemühungen französischer Präsidenten, eine Europäische Souveränität unter der Führung Frankreichs zu etablieren und sich möglichst unabhängig von den Vereinigten Staaten zu machen. Dies führte innerhalb der europäischen Partner zu einer strategischen Einsamkeit. Die Präsidentschaften von Donald Trump stützten zunächst die französische Sichtweise. Der Beginn des Ukraine Krieges stellte allerdings eine historische Zäsur dar. Mit der neuen französischen Sicherheitsstrategie im November 2022 wurde der Einsicht Rechnung getragen, dass kein bewaffneter Konflikt auf hohem Niveau ohne das transatlantische Bündnis möglich ist. Die Kooperation mit Deutschland, Großbritannien und Polen wird deutlich verstärkt. Der Artikel 4 des Vertrages von Aachen 2019 regelt die gegenseitige sicherheits- und verteidigungspolitische Unterstützung zwischen Deutschland und Frankreich. Erfreulich und wichtig ist in diesem Zusammenhang das verstärkte außenpolitische Engagement von Bundeskanzler Friedrich Merz.
Ein ausführliches Gespräch über nukleare Abschreckung gilt zumindest als symbolischer Fortschritt. Als Beispiel für die unterschiedlichen Bereitschaften und sicherheitspolitischen Kulturen nennt Dr. Landry Charrier die Deutsch-Französische Brigade. Gegründet 1989, um die militärische Zusammenarbeit zu verbessern und ein starkes Zeichen für europäische Integration und Sicherheit zu setzen. Sie war zum Beispiel in Mali tätig, wo die Franzosen im Norden an Kampfeinsätzen beteiligt waren, während die Deutschen im Süden Ausbildungseinsätze ohne Gefechtsbeteiligung absolvierten.
Frankreich hat ein robusteres Mandat und kann schneller entscheiden, während Deutschland eine Parlamentsarmee hat und für militärische Einsätze der Bundestag entscheiden muss. Für einen starken europäischen NATO-Pfeiler fehlt allerdings auch hier die gemeinsame Definition militärischer Ziele und Einsatzszenarien.
Auch historisch geprägte Empfindlichkeiten stehen einer spannungsfreien und vertrauensvollen Zusammenarbeit entgegen. Während Frankreich die Führungsrolle mit der Entwicklung von FCAS (Future Combat Air System) beansprucht und dies durch den CEO von Dassault Aviation Eric Trappier auch vehement einfordert, soll Deutschland die Führung beim MGCS (Main Ground Combat System) übernehmen. Diese hochmodernen Systeme werden aber erst um 2040 zur Verfügung stehen.
Konkrete Projekte für heute und morgen müssen konstruktiv umgesetzt werden. Auch die Aktivitäten von Rheinmetall werden von Frankreich im Rahmen ihrer kompetitiven Haltung kritisch beobachtet. Nichtsdestotrotz bleibt festzuhalten, dass Deutschland und Frankreich das Herzstück einer handlungsfähigen Union sind und sein müssen: Diese beiden europäischen Länder gelten als „weltpolitikfähig“. Nur mit Mut, Entschlossenheit und Weitsicht lassen sich die strategischen und politischen Barrieren überwinden.
Prof. Schlie unterstützt die Analyse von General Vollmer und stellt die Frage, warum Deutschland und auch die Nato unter ihren strategischen Möglichkeiten bleiben. Die Streitkräfte sind zu oft ein Spielball der Politik und es fehlt eine militärisch fundierte Strategie. So ist beim diesjährigen NATO-Gipfel in Den Haag nicht ausbuchstabiert worden, wie der Ukraine Krieg beendet werden soll. Es wurde eine souveräne Verpflichtung der einzelnen Mitgliedsstaaten gegenüber der Ukraine festgelegt, aber eine gemeinsame NATO-Position fehlt.
Die Ausrichtung der EU mit ihren interessengeleiteten einstimmigen Beschlussnotwendigkeiten führt zu einem strategischen Dilemma. Leider fehlt auch in Deutschland die Grundlage in diesem Bereich. Die Nationale Sicherheitsstrategie 2023 ist bestenfalls ein „gehobener Koalitionsvertrag“. Sie wimmelt von Widersprüchen und bietet wenig konkrete und priorisierte Antworten. Der Bundesnachrichtendienst kommt, wenn überhaupt, nur peripher vor.
Wichtig wäre Verteidigungspolitik aus einem Guss, die Staatsführung, Streitkräfte und Gesellschaft einbezieht und klar die deutschen Interessen definiert. Die scheinheilige Debatte über die Wehrpflicht muss beendet, und der Rat der Experten umgesetzt werden.
Am „Operationsplan Deutschland“ sowie am Aufbau einer Europäischen Verteidigungsunion wird bereits intensiv gearbeitet. Dies trägt den unzuverlässigen amerikanischen Sicherheitsgarantien und der zunehmenden Bedrohung durch Russland Rechnung.
Die Zeit drängt, denn 2029 ist übermorgen.